Sonntag, 12. Juli 2015

Der Walnussbaum, der mich in den Paradiesgarten führte - Folge 1

Es war einmal ...

nein, jetzt kommt kein Märchen, wenn mir das Erlebte auch wie ein Märchen vorkommt. Ein zauberhaftes Märchen von einem respektablen alten Baum und einem Paradies, in das er uns zu guter Letzt führte. 

Ich gehe weit zurück in der Zeit.

1911 ... in diesem Jahr wurde meine Tante H. geboren. Es wird vermutet, dass zur gleichen Zeit ein Walnussbaum auf dem Hof gepflanzt wurde (*siehe Anmerkung unten), auf dem sie fast ihr ganzes Leben verbrachte. 

Der Baum stand, so lange ich denken kann, auf dem Hühnerhof, wo ich so oft Zeit verbrachte, wenn ich in den Sommerferien zu meiner Oma und Tante H. durfte. Die Schuhe waren grün-verdreckt, wenn es wieder zurück auf die Diele ging. Vor dem Betreten des Wohnhauses mussten sie gereinigt werden. Auch mich hat man in den Hühnerstall geschickt, wo ich den Hühnern, die wild aufgescheucht gackernd ihre kleinen Strohnester verließen, die noch warmen Eier wegnehmen und sie in ein Weidenkörbchen legen durfte.

So dürfte dieser Baum heute (im Jahr 2015) sage und schreibe 104 Jahre alt sein. Ein Jahr älter als meine Tante H. geworden ist. Er kann (laut Wikipedia) 150 bis 160 Jahre alt werden. So war der Baum, von dem ich erzähle, nicht mehr ganz jung. Verglichen mit einem Menschen in Europa, dessen durchschnittliche Lebenserwartung ca. 80 Jahre beträgt, wäre dieser 104 Jahre alte Walnussbaum entsprechend als Mensch 52 Jahre alt. Na ja, einen Menschen in diesem Alter würde man zumindest auch nicht mehr als jung bezeichnen.

Auf jeden Fall war er (relativ) deutlich jünger als Tante H., die dieses Jahr im Januar von uns ging. Er wurde (relativ) nur halb so alt wie sie. Was die zwei miteinander noch zu tun haben, davon will ich heute erzählen.


Du, lieber Leser, erkennst schon ... dieses Mal verlassen wir das uns so vertraute (mein) Gartengelände, verlegen den abenteuerlichen Spaziergang in andere Gefilde, die zum Schluss einen Energieschub sondergleichen abgeben, landen wir doch in einem kleinen Paradies, von dem ich mir beim Aufwachen am 5. Juni dieses Jahres, dem ersten richtig heißen Sommertag in 2015, niemals hätte träumen lassen.

So viel vorweg ...
doch ich will nun einigermaßen chronologisch vorgehen.


Am 5. Juni waren wir, mein Mann und ich, bei meiner Cousine auf oben erwähntem Bauernhof zum Kaffeetrinken eingeladen. Wie üblich stellten wir unser Auto auf dem Parkplatz an der Scheune ab, in der sich früher auch der Hühnerstall befunden hatte. Ich wollte zuerst nach dem geliebten Walnussbaum  sehen. Wie viele seiner Nüsse habe ich in den letzten Jahren wohl geknackt und verzehrt? Jedes Jahr im Herbst bekam ich von Tante H. großzügig ein ganzes Netz voller runzliger, brauner Baumfrüchte geschenkt.


Gespannt schaute ich um die Ecke des Gebäudes ...

Oh Schreck! Wie hatte sich die Majestät verwandelt!

Ein armseliger Torso streckte seine drei Stammenden klagend gen Himmel. Nun war es also geschehen - der Baum war abgesägt worden!




Schon im letzten Jahr, als Tante H. noch lebte, hatte der Sohn meiner Cousine bereits geäußert, man müsse den Baum doch wohl bald fällen. Einen dicken Ast habe man schon entfernen müssen, da er für die Kinder, die auf dem Hof spielten, doch zu gefährlich gewesen sei. Ja, beim Absägen habe sich das auch bestätigt. Aber er wolle doch grundsätzlich nicht Hand an den ganzen Baum legen lassen, so lange Tante H. noch lebe.


An diesem Junitag war ich zugleich froh, dass er sich an dieses Versprechen gehalten hatte, andererseits aber auch traurig, dass ich so unvorbereitet auf den Torso stieß. 

In meiner Erinnerung hatte ich noch die stattliche Laubkrone des Riesen vor Augen, der dem Hühnerhof stets Schatten und dem Menschen so viele nährstoffreiche Früchte geschenkt hatte.

Einen Tag nach dem Cousinenbesuch durchsuchte ich meine Dateien und fand nur zwei Fotos, die den Baum noch lebend und mit etwas Laub zeigen. Gott sei Dank! Ich hatte sie am 29.11.2011 aufgenommen. Es war der 100. Geburtstag von Tante H.:




Sicher hatte der Baum zu dem Zeitpunkt bereits seine Nüsse abgeworfen und wartete geduldig auf den Winter.

Wenn ich mir diesen Riesen anschaue, muss ich oft an den Walnussbaum denken, den wir im Garten eines gemieteten Hauses stehen hatten. In wenigen Jahren war er zu einer Größe herangewachsen, die den ganzen Garten in Schatten legte, ohne, dass er auch nur eine Nuss getragen hätte.

Bei einem Besitzerwechsel bekamen wir die Erlaubnis, das für jenen Garten viel zu große Ungetüm fällen zu lassen. Wohl hatte der neue Vermieter an seine Rentenzeit gedacht, in der er das Haus selbst würde beziehen wollen und in der er eine Totalbeschattung des Hauses befürchtete. 


Anders die Walnuss auf Tante H.s Hühnerhof. Hier konnte sich der Baum frei entfalten und wir Kinder waren sicher froh, im heißen Sommer in seinem Schatten herumtoben zu können.


Zurück zum Hühnerhofbaum ... 

es muss Anfang Mai dieses Jahres (2015) gewesen sein. Meine Tante war nun schon seit einem Vierteljahr auf die "andere Seite" gegangen. Nun fiel die endgültige Entscheidung: Der Baum muss runter!

Ein professioneller Baumfäller (Klettermethode) wurde bestellt und die Dinge nahmen ihren geplanten Lauf. Beim Absägen der Äste wurde offenbar, dass es höchste Zeit gewesen war, die Säge anzusetzen, denn hier und da zeigte sich, dass die Gefährlichkeit des Baumes in puncto Astabbruch doch nicht unerheblich gewesen war. 

Als nun der Torso mit den drei Enden übrig blieb, soll der Baumfäller gesagt haben, dass er in dieser Form doch ein gutes Objekt für einen in der Nähe lebenden Künstler abgebe, der aus Stämmen und Ästen Engel schnitze.

Ich horchte auf ...

"Wie, habt ihr das Holz noch? Könnte ich ...?", und ich dachte mir, dass ich gern mit einem Stück Holz des von mir so geschätzten Baumes zu dem erwähnten Künstler gehen würde, um mir daraus einen Engel schnitzen zu lassen. 

Pustekuchen!

Das gesamte Holz war bereits entsorgt worden. Wie schade!

Außerdem hatte der Baumfäller es auch ganz anders gemeint. Er sprach von dem Torso, in dem er eine riesige Engelfigur erkannte, nicht von dem abgefallenen Holz. Danach befragt, ob er denn so eine künstlerische Verwendung beabsichtige, machte der Sohn meiner Cousine eine abwehrende Handbewegung, was mir signalisierte, dass er daran kein Interesse hatte. Warum das so war, erschloss sich mir erst viel später ...




Mit genügend Fantasie wird hier wohl jeder eine Engelfigur sehen können - 
vorn der Kopf und dahinter die gen Himmel gestreckten Flügel

In Folge 2 wird dann ein Standortwechsel erfolgen ... und es wird um andere Hölzer gehen ...

* Inzwischen habe ich durch erneute Nachfrage erfahren, dass der Baum zwar im Jahr vor Tante H.'s Geburt, also 1910 - zusammen mit anderen Walnussbäumen - gepflanzt wurde, nicht aber aus Anlass ihrer Geburt. Dennoch stimmen ja die Aussagen zu seinem ehrwürdigen Alter.

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